Der Neue Schatten

Aus Ardapedia

Der Neue Schatten (orig. The New Shadow) ist eine unvollendete Geschichte von J. R. R. Tolkien, die ursprünglich als Fortsetzung seines Romans Der Herr der Ringe dienen sollte.

Beschreibung

Das winzige Fragment der Erzählung The New Shadow spielt im frühen Vierten Zeitalter in Gondor, etwa ein Jahrhundert nach dem Ringkrieg. Die Chronologie ist nicht eindeutig, da Tolkien in verschieden Versionen andere Zeitangaben erwähnt.

This tale begins in the days of Eldarion, son of that Elessar of whom the histories have much to tell. One hundred and five years had passed since the fall of the Dark Tower, and the story of that time was little heeded now by most of the people of Gondor, though a few were still living who could remember the War of the Ring as a shadow upon their early childhood.

—” J. R. R. Tolkien: The Peoples of Middle-earth. (The History of Middle-earth, Band XII.)

Diese Erzählung beginnt in den Tagen von Eldarion, dem Sohn jenes Elessars, über den die Chroniken viel zu berichten haben. Einhundert und fünf Jahre waren seit dem Fall des Dunklen Turmes vergangen, und das Volk Gondors schenkte der Geschichte jener Zeit nur wenig Beachtung, obwohl noch einige wenige lebten, die sich an den Ringkrieg erinnerten wie an einen Schatten auf ihrer frühen Kindheit.

Übersetzung: Ardapedia

Auf den wenigen Seiten, über die sich die Erzählung erstreckt, entwickelt sich die Handlung in Form eines Dialoges zwischen zwei Menschen aus Gondor (dem alten Borlas, der den Ringkrieg noch miterlebt hat, und dem jungen Saelon) über ethische Werte und rechtes Handeln. Die Geschichte bricht in dem Moment ab, als Borlas sich entschlossen hat, die Einladung Saelons zu einer Veranstaltung der Sauronisten (die Sauron nun Herumor, den „Herrn der Dunkelheit“, nennen) anzunehmen.

Inhalt

In Gondor stehen die Zeichen auf Wohlstand, aber dieser führt zu einem gewissen Werteverfall bei der Jugend. Der alte Borlas von Pen-Arduin, der jüngere Sohn von Beregond, hat vor langer Zeit einmal ein Kind namens Saelon, das ihm unreife Äpfel zum Spiel gestohlen hatte, zur Rede gestellt und seine Handlungsweise als eines Orks würdig bezeichnet; nun, Jahre später, unterhalten sich die beiden wieder über diesen Vorfall.

Das Gespräch entwickelt sich dahingehend, dass Borlas den Vorfall mit dem allgemeinen Verfall der Gesellschaft zum Bösen vergleicht. Saelon missfällt diese Ansicht, daher beginnen sich die beiden zu misstrauen. Als Saelon erfährt, dass Borlas von den satanistischen Machenschaften um Herumor gehört hat, wird er hellhörig und stellt ihn zur Rede. Dieser jedoch ist wiederum über das Interesse Saelons an diesem Thema verwundert und verweigert ihm die Auskunft. So endet das Gespräch der beiden, jedoch lädt Saelon den alten Mann aus unbekannten Gründen zu einem nächtlichen Spaziergang in schwarzer Kleidung ein.
Der misstrauische Borlas denkt auf dem Heimweg über die Worte Saelons nach, kommt aber zu dem Entschluss, die Einladung anzunehmen – um herauszufinden, ob der junge Mann in die finsteren Machenschaften verwickelt ist.

Die Geschichte endet jedoch abrupt bevor es zu diesem erneuten Treffen kommt, als Borlas sein Haus betritt und in der „finsteren Totenstille das alte Übel riecht“.

Es werden auch noch andere Elemente erwähnt, die zu dieser Zeit von statten gingen. So hat Borlas einen Sohn namens Berelach, der in seiner Jugend der beste Freund von Saelon gewesen ist. Dieser dient jedoch in Pelargir in der königlichen Flotte und kommt nur selten nach Hause. Saelon wiederum arbeitet in der Bauholz-Industrie und kommt in den letzten Jahren viel herum, versäumt es aber nicht, immer wieder den Vater seines alten Freundes zu besuchen und sich mit ihm zu unterhalten. So sprachen sie eines Tages auch über einen Vorfall an den Ethir, wo einige Seemänner und ein kleines Schiff der Flotte verschwunden waren. Die unerfahrenen Freunde waren laut einem Bericht von Berelach auf eigene Faust losgefahren, ohne Erlaubnis oder einen Lotsen, und sind an der stürmischen Westküste ertrunken. Laut Saelon waren nur wenige mit der öffentlichen Darstellung zufrieden. Die Männer waren nicht unerfahren; sie waren Söhne von Fischern. Und es gab schon eine ganze Weile keine Stürme mehr vor der Küste. Als er Saelon das sagen hörte, erinnerte sich Borlas plötzlich an die anderen Gerüchte über die Othrondir gesprochen hatte. Er war es, der das Wort „Schädling“ verwendet hatte. Und dann hatte Borlas halb zu sich selbst laut über den Dunklen Baum gesprochen, was schließlich zum Hauptgespräch zwischen ihm und Saelon geführt hatte.

Inhaltlicher Bezug

In seinen Confessiones stellt der katholische Philosoph Augustinus seine Jugendsünde, Früchte ohne Not gestohlen zu haben, in den schwärzesten Farben dar und weist insbesondere darauf hin, dass nicht der Diebstahl an sich, sondern die Unnotwendigkeit desselben (er war nicht hungrig gewesen, und zu Hause hätte er sogar bessere Früchte gehabt) das eigentlich moralisch Verwerfliche der Handlung sei.

In Der Neue Schatten meint Borlas, dass es keine Entschuldigung für den Diebstahl unreifer Äpfel (der dem Besitzer und dem Baum Schaden, dem Dieb aber keinen Vorteil bringt) gebe. Diese ähnliche Entwicklung der Diskussion bei Tolkien lässt darauf schließen, dass Tolkien sich mit den Schriften des Augustinus auseinandergesetzt haben muss.

Kommentare Tolkiens zur Geschichte

In einem Brief an Colin Bailey vom 13. Mai 1964 erwähnte Tolkien die Geschichte. Er habe begonnen eine Geschichte zu schreiben die 100 Jahre nach dem Fall Saurons stattfinden sollte, aber sie erwies sich als unheimlich und erdrückend. Nachdem nunmehr Menschen Mittelerde besiedelten, musste man sich unweigerlich mit einer ihrer schlechtesten Eigenschaften befassen: ihrer schnellen Sattheit zum Guten. So wurden die Menschen von Gondor in Zeiten des Friedens, der Gerechtigkeit und des Wohlstandes schnell unzufrieden und unruhig, während die Erben Aragorns zu Königen und Statthaltern wurden, wie es Denethor einst war (oder sogar schlimmer). Tolkien kam zur Erkenntnis, dass schon sehr früh ein Aufstreben von revolutionären Gruppen begonnen hatte, das sich um ein Zentrum der geheimen satanistischen Religionen bildete; während gondorische Kinder Orks nachahmten und in ihrem Umfeld unnötigen Schaden anrichteten. Er schreibt, er hätte einen Thriller über dieses Thema schreiben können, aber es wäre nur dabei geblieben, nicht mehr und nicht weniger. Dies war es aus seiner Sicht nicht wert.

Auch in einem späteren Brief von 1973 an seinen Freund Douglas Carter schrieb Tolkien, er habe sich nicht viel mit den ersten Jahren des Vierten Zeitalters beschäftigt, jedoch habe er eine Geschichte begonnen, die zu Ende der Regierungszeit Eldarions stattfinden sollte, als ungefähr 100 Jahre nach dem Tod Aragorns. Er ließ diese jedoch unvollendet, da er schnell begriff, dass in Zeiten des Königlichen Friedens Kriege eher unbedeutend waren. Die Rastlosigkeit der Menschen jedoch führte zu geheimen Gemeinschaften, die finstere Kulte praktizierten und Ork-Werk unter Jugendlichen.

Werkgeschichte

Die unvollendete Geschichte bzw. das Fragment wurde erstmals 1996 im 12. Band der History of Middle-earth, The Peoples of Middle-earth, von Christopher Tolkien veröffentlicht. Die Entstehungsgeschichte des Textes ist nicht kompliziert, aber es besteht eine erstaunlich große Menge an Material rund um The New Shadow.

Erste Version

Das älteste erhaltene Material ist ein Manuskript, das eine Sammlung aus handschriftlichen Materialien umfasst. Es beginnt mit einem beidseitig beschriebenen Blatt mit dem originalen Beginn der Erzählung. Diese Einleitung endet mit der Erinnerung des jungen Mannes (der hier Egalmoth genannt wird) an die Rüge und Strafpredigt, die er als Kind von Borlas erhalten hatte.

Der Einleitung folgt ein ebenfalls handschriftlicher Text (genannt „A“), geschrieben in schneller aber leserlicher Schrift, welcher den restlichen Inhalt der Erzählung, bis zur Stelle an der sie abrupt endet, umfasst.

Zweite Version

Die zweite Version ist ein Schreibmaschinen-Typoskript (genannt „B“) in Hochglanzdruck und Kohle, welches A sehr ähnlich ist und an derselben Stelle endet. Es liegen mehrere kleine Änderungen des Ausdrucks vor, aber nichts, was die Erzählung in geringster Weise verändern würde (der junge Mann wird hier jedoch Arthael genannt).

Es existiert auch eine Kopie von B ohne wesentliche eigene Bedeutung.

Dritte Version

Schließlich besteht noch ein weiteres Typoskript (genannt „C“), auch mit Kohledruck, das die Geschichte nur insofern ausdehnt, als dass der junge Mann (hier letztendlich Saelon genannt) Borlas gedankenverloren in seinem Garten zurücklässt. Der Text C steht im gleichen Verhältnis zu B wie B zu A: Verbesserungen im Ausdruck, aber keine Veränderungen der Geschichte oder neue Verweise.

Es erscheint verwunderlich, dass Tolkien drei Fassungen der Geschichte erstellte und in jeder auf die Verbesserung des Textes im Detail aus war, sie jedoch nie über einen bestimmten Punkt der Handlung hinaus brachte.

Zeitliche Einordnung

Von den Schreibmaschinen die Tolkien benutzte lässt sich leicht eine zeitliche Abfolge der drei Texte ableiten. So war C eindeutig die letzte Version an der er gearbeitet hatte. B wurde auf der Maschine geschrieben, die Tolkien in den 1950er Jahren benutzte. Die Maschine, die er für C benutzte, war seine letzte.

In seiner Biografie schreibt Humphrey Carpenter, dass Tolkien 1965 ein Typoskript von The New Shadow wieder fand, „einer Fortsetzung des Herr der Ringe, die er vor langer Zeit begonnen hatte, jedoch nach nur wenigen Seiten wieder verwarf. [...] Er blieb bis vier Uhr morgens wach um es zu lesen.“ Die Quelle dieser Behauptung ist nicht bekannt, jedoch gibt es einen weiteren Beweis dafür: Ein alter Briefumschlag vom 8. Januar 1968, auf dessen Rückseite Tolkien eine Notiz über Borlas und sein Umfeld zu Anfang der Erzählung verfasste. Dies ist ein eindeutiger Beweis dafür, dass Tolkien sich noch 1968 mit The New Shadow befasste.

Quellen

  • J. R. R. Tolkien: The Peoples of Middle-earth. (The History of Middle-earth, Band XII.) Herausgegeben von Christopher Tolkien. HarperCollins, London 1996. Part Four: “Unfinished Tales—. XVI “The New Shadow—
  • J. R. R. Tolkien: Briefe. Ausgewählt und herausgegeben von Humphrey Carpenter mit der Hilfe von Christopher Tolkien. Übersetzt von Wolfgang Krege. Klett-Cotta, Stuttgart 1991. (Im Original erschienen 1981 unter dem Titel Letters of J. R. R. Tolkien.)
  • Humphrey Carpenter: J. R. R. Tolkien: A Biography. George Allen & Unwin, London 1977.