Lied über Earendil
Das Lied über Earendil (orig.: Song of Earendil)[1] ist ein Gedicht J. R. R. Tolkiens, veröffentlicht als Bestandteil des Herrn der Ringe. Darin wird es von Bilbo Beutlin verfasst und vorgetragen.
Beschreibung
Entstehung
Bald nach seiner Rückkehr von der Fahrt zum Erebor verfasste Bilbo das Gedicht Irrfahrt, welches in einem von ihm erfundenen metrischen System gehalten war. Er war so stolz auf diese Erfindung, dass er wärend seines „Ruhestandes“ in Bruchtal ein weiteres Gedicht in diesem System verfasste, das Lied über Earendil. Am 24. Oktober 3018 D.Z. hatte er es fertiggestellt und trug es in der Halle des Feuers vor.
Da er zuvor Aragorn gebeten hatte, ihm beim letzten „Feinschliff“ des Gedichts zu helfen, wollte er die Elben von Bruchtal nach seinem Vortrag raten lassen, welche Teile des Gedichts von ihm selbst und welche von Aragorn verfasst waren. Lindir jedoch war der Ansicht, dass Elben sich dazu nicht genug mit Sterblichen und ihrer Lyrik auskennen. Bilbo verriet Frodo, dass Aragorn nur auf der Erwähnung des Elessar bestanden habe und das Gedicht ansonsten allein von ihm selbst sei.
Lindir bat Bilbo, das Gedicht noch einmal vorzutragen – was laut Bilbo ein Zeichen hoher Wertschätzung war.
Inhalt
Im Lied über Earendil erzählt Bilbo eine Kurzfassung der Geschichte Earendils, des Seefahrers.
Er berichtet, wie Earendil in Arvernien sein Schiff Vingilot baut, sich rüstet und bewaffnet und aufbricht, um Belegaer zu überqueren und Aman zu finden. Earendil gelangt bis zur Helcaraxe und in den äußersten Süden, erreicht jedoch nicht sein Ziel, erhascht nicht den kleinsten Blick auf Valinor. Schließlich treiben ihn heftige Sturmwinde zurück in Richtung Mittelerde.
Doch aus diesem Sturm stürzt seine Frau Elwing in Gestalt einer Möwe auf sein Schiff – und sie trägt den Silmaril bei sich, den Beren und Lúthien aus Angband retteten. Elwing krönt ihn mit dem Silmaril, und der Wind dreht sich: Die Vingilot wird nun nach Westen getrieben, und zuletzt gelangt sie doch noch nach Eldamar.
In Tirion erhohlt sich Earendil von seinen Irrfahrten, und schließlich wird er nach Ilmarin auf dem Taniquetil gebracht. Dort wird über sein Schicksal entschieden: Ihm wird ein neues Schiff gebaut, aus Mithril und Kristallglas, dem Varda den Silmaril als Banner und die Fähigkeit die Lüfte zu befahren verleiht. Von nun an ist es seine Aufgabe, als Stern den Himmel zu durchkreuzen: Er ist nun der „Flammifer von Westernis“.
Werkgeschichte
Das Lied über Earendil ist nicht nur in Tolkiens Fiktion eine Weiterentwicklung aus Irrfahrt. Tatsächlich ist aus seinen Manuskripten ersichtlich, dass das längere Gedicht Schritt um Schritt aus dem Kürzeren entwickelt wurde. Insgesamt liegen 15 Manuskripte und Typoskripte des Gedichts in seiner Rolle als Bilbos Lied in Bruchtal vor.
Die erste Gruppe von Manuskripten behält viele wesentliche Eigenschaften von Irrfahrt bei und enthält keine Verweise auf die Silmarillion-Mythologie; die nächste Gruppe erscheint schon als Mischling aus der Irrfahrt und dem Lied über Earendil, ist aber teilweise auch noch dem Unsinns-Reim recht ähnlich. In der dritten Gruppe wird schließlich die Form erreicht, wie sie im Herrn der Ringe veröffentlicht ist (ab nun kurz die „veröffentlichte Fassung“ genannt).
Bemerkenswerterweise ist dies nicht die letzte Version, die Tolkien verfasste: Nach dieser folgten noch drei weitere Fassungen, die das Gedicht um acht Zeilen erweiterten.[2] In „der Form, in der [das Gedicht] hätte veröffentlicht werden sollen“[3] (ab nun kurz die „Fassung letzter Hand“ genannt) enthält das Gedicht, neben einigen anderen Änderungen, zusätzlich noch einen kurzen Hinweis auf den Angriff der Söhne Feanors auf die Flüchtlinge an den Mündungen des Sirion. Die Manuskripte dieser letzten Entwicklungsstufen, so vermutet Chtistopher Tolkien, hatte Tolkien im entscheidenden Moment – als er das Manuskript des Herrn der Ringe an den Verlag schickte – verlegt und vergessen. Als er sie viel später wiederfand, war er verwirrt und versuchte sich zu erklären, wie und wieso er aus einer ausgefeilteren, längeren Fassung des Gedichts, die noch dazu in einer makellosen Reinschrift vorlag, die im Herr der Ringe veröffentlichte Fassung entwickelte.
Zuletzt haben Irrfahrt und das Lied über Earendil aber nur noch einen einzigen Vers gemeinsam: his scabbard of chalcedony.
Aufbau und Form
Metrum
Das Gedicht ist durchgehend aus jambischen Versfüßen aufgebaut, wobei jede Zeile vier Hebungen aufweist. Insgesamt wird das Metrum im gesamten Gedicht kaum gestört; chainéd und orbéd müssen, wie der Akzent anzeigt, zweisilbig ausgesprochen werden, um dem Versmaß gerecht zu werden. Irritierend wirkt allerdings gleich das erste Wort: Earendil beginnt nicht mit einem Diphthong, hat am Wortanfang also eine Silbe „zuviel“.[4]
Strophen
Das Lied über Earendil besteht aus neun Strophen, sowohl in der veröffentlichten Fassung wie auch in der Fassung letzter Hand. In letzterer allerdings ist die vierte Strophe länger.
Die Strophen zeigen keine besondere Regelmäßigkeit in ihrer Länge, außer, dass sie stets eine gerade Anzahl an Zeilen enthalten – aus Gründen, die im Folgenden erläutert werden.
Zeilen
So, wie das Lied über Earendil im Herrn der Ringe abgedruckt ist, hat es 124 Zeilen, die Version letzter Hand 132 Zeilen. Als Beispiel seien hier die ersten vier Zeilen angegeben:
- Eärendil was a mariner
- that tarried in Arvernien:
- he built a boat of timber felled
- in Nimbrethil to journey in.
- Earendil hieß ein Schiffer kühn,
- Der weilte in Arvernien,
- Schlug Holz und baute sich ein Schiff,
- Von Nimbrethil auf Fahrt zu gehn.[5]
Dieser Zeilenumbruch verschleiert jedoch den regelmäßigen Aufbau des Gedichts. Um diese Struktur deutlicher zu machen empfiehlt es sich die Zeilen, so wie sie „offiziell“ aufgeteilt sind, als Halbzeilen zu begreifen, von denen jeweils zwei eine Langzeile ergeben:
- Eärendil was a mariner / that tarried in Arvernien:
- he built a boat of timber felled / in Nimbrethil to journey in.
- Earendil war ein Seemann der in Arvernien weilte:
- Er baute ein Boot aus Balken, geschlagen in Nimbrethil, um darin zu reisen.[6]
Reimschema
Die Langzeilen bilden Paarreime (nach dem Schema aa bb). Daher haben alle Strophen eine gerade Anzahl an Langzeilen und eine durch vier teilbare Anzahl an Halbzeilen.
Die Reime sind allerdings nicht immer rein, wie im obigen Beispiel zu sehen ist: -nien reimt sich nicht sauber auf -ney in. Andererseits treten am Langzeilenende hin und wieder auch Ähnlichkeiten mehrerer Silben auf: fountains fall und Mountain Wall (achte Strophe) beispielsweise sind mehr als nur ein einfacher Endreim – jedoch ohne vollständig deckungsgleich zu sein.
Lautstilistik
Zwischen und in den Halbzeilen spinnt Tolkien ein Geflecht aus Lautbeziehungen, die sich nicht immer eindeutig in die traditionellen Kategorien der Lyrik-Analyse einordnen lassen. Außerdem werden sie nach keinem festen System eingesetzt. Aber folgende Phänomene lassen sich erkennen und benennen:
- Binnenreime, zum Beispiel [...] he back was borne / on black and roaring waves [...]
- Alliterationen, zum Beispiel [...] he back was borne / on black and roaring waves [...]
- Assonanzen, zum Beispiel [...] he back was borne / on black and roaring waves [...]
- Anlaut-Ablaut-Paare, zum Beispiel [...] he back was borne / on black and roaring waves [...]
Manchmal treten die Stilmittel gehäuft auf, manchmal werden sie nur angedeutet. Insgesamt haben sie eher ornamentalen Charakter, doch stets sind die Halbzeilen einer Langzeile durch mindestens eins der Stilmittel miteinander verbunden. Besonders häufig verwendet Tolkien dazu (annähernde) Binnenreime oder Assonanzen.
Die Anlaut-Ablaut-Paare treten relativ häufig in alliterierenden Wörtern auf, etwa back was borne, Night of Naught, years of yore – andererseits zeigen einige der betonten Silben auch unabhängig von der Alliteration einen Anlaut-Ablaut-Kontrast zueinander.
Wortwahl
Die Thematik des Gedichts bedingt, dass sich darin eine große Bandbreite an Bewegungsverben findet: to journey, to roam, to wander, to rove, to drive, to flee, to speed, to come, to go, to run, to escape, to sail und einige mehr.
Die am häufigsten verwendeten Verben jedoch sind to bear (someone), to turn, to pass und to tarry.
To bear („tragen“) wird dreimal mit belebtem Patiens verwendet (und noch zweimal mit unbelebtem). Dies stellt Earendil und Elwing als Getriebene, als von höheren (Schicksals-)Mächten abhängig dar.
To turn („abdrehen“, „sich abwenden“) wird ebenfalls dreimal verwendet und verweist auf die verschlungenen Wege von Earendils Irrfahrt.
Am interessantesten sind allerdings to pass („vorbeiziehen an“, „weiterziehen“) und to tarry („verweilen“) – to tarry wird einmal auf Earendils Aufenthalt in Arvernien, einmal auf den in Tirion bezogen. Diesen Aufenthalten gegenüber stehen drei Verwendungen von to pass – einmal sogar in der Wendung to pass away, die synonym zu „sterben“ ist. Dieser Gegensatz kulminiert in der letzten Strophe: But on him mighty doom was laid, [...] to pass, and tarry never more [...][7]
Satzbau
Sehr auffällig ist die zueinander spiegelbildliche Konstruktion der jeweils letzten Zeilen der dritten und vierten Strophe:
- from West to East and errandless, / unheralded he homeward sped.[8]
- [...] across the grey
- and long-forsaken seas distressed / from East to West he passed away.[9]
Zwischen diesen beiden Langzeilen liegt die Peripetie des Gedichts, und die erneute Umkehr Earendils in Richtung Westen. Der Satzbau unterstreicht diese inhaltliche Kehrtwende.
Zeilensprünge (Enjambements) werden in recht unterschiedlichem Maß verwendet: In der zweiten Strophe, die eine reine Aufzählung ist, sind viele der Halbzeilen syntaktisch fast eigenständig, während im restlichen Gedicht gewöhnlich zumindest die Langzeilen in sich eine syntatkische Einheit bilden. Auch sich reimende Langzeilen sind oft syntaktisch verknüpft. Der letzte Satz der fünften Strophe ist dagegen eher eine Ausnahme:
- A wanderer escaped from night / to haven white he came at last,
- to Elvenhome the green and fair / where keen the air, where pale as glass
- beneath the Hill of Ilmarin / a-glimmer in a valley sheer
- the lamplit towers of Tirion / are mirrored on the Shadowmere.
- Als Wanderer, der Nacht entflohen, kam er zuletzt in den weißen Hafen,
- nach Elbenheim, grün und schön, wo die Luft schneidend frisch ist, wo blass wie Glas,
- unter dem Berg von Ilmarin schimmernd in einem tiefen Tal,
- die lampenbeleuchteten Türme von Tirion sich auf der Schattensee spiegeln.[10]
Interpretationsansätze
Tom Shippey fasst die vielfältige und teilweise nur andeutende Verwendung der zahlreichen Stilmittel, die eine „fließende“ und unsichere Wahrnehmung des Gedichts und seiner Muster bedingt als wichtigstes Merkmal auf. Dies seien „elbische“ Eigenschaften von Lyrik, so Shippey.
Strukturell ist das Gedicht ein Hybrid aus altenglischen (Alliteration; Langzeilen aus verbundenen Halbzeilen) und neuzeitlichen (Endreim, festes Metrum) Formen. Solch eine Mischung gab es in der englischen Literaturgeschichte schon einmal: im „Alliterative Revival“ des Spätmittelalters. Damals griffen Dichter im Mittelenglischen auf altenglische Lyrik-Traditionen zurück und verwendeten verstärkt wieder Alliteration. In jener Zeit entstand beispielsweise das Gedicht Pearl („Perle“, vom Gawain-Dichter), dessen enorm komplexes System bisher wahrscheinlich nur von Tolkien wiederholt wurde. Im Gegensatz zu Pearl liegt dem Lied über Earendil aber kein annähernd so rigides Regelwerk zu Grunde.
Deutsche Übertragung
Sowohl die deutsche Übersetzung des Herrn der Ringe von Margaret Carroux wie auch die von Wolfgang Krege verwenden die Übertragung des Liedes über Earendil von Ebba-Margareta von Freymann. Diese Übertragung behält nur das Versmaß des Originals bei, alle anderen Stilmittel werden nicht nachgeahmt. Dafür sind die inhaltlichen Abweichungen begrenzt.
Allerdings erreicht Tolkiens Gedicht eine Komplexität, die wohl keine Übersetzung oder Übertragung auch nur annähernd wiedergeben könnte.
Anmerkungen
- ↑ So der Titel im Index I des Herrn der Ringe. Krege übersetzte dies als Bilbos Earendil-Lied. Der Titel der Fassung letzter Hand (siehe „Werkgeschichte“) ist The Short Lay of Eärendel: Eärendillinwë, deutsch etwa „Das Kurze Lied von Earendel: Earendillinwe“ (Ear-(e)ndil-linwe: Quenya „Meerfreundlied“).
- ↑ Gemeint sind hier Halbzeilen – siehe auch „Aufbau und Form – Zeilen“.
- ↑ Christopher Tolkien: The Treason of Isengard. Boston: Houghton Mifflin, 1989. Seite 103. Deutsche Übersetzung: Ardapedia. Interessanterweise hat Christopher Tolkien augenscheinlich keinen Versuch unternommen, diese Fassung letzter Hand doch noch im Herrn der Ringe einzufügen.
- ↑ In der Rezitation könnte dies möglicherweise ausgeglichen werden, wenn der Vortragende das Anfangs-E ausgedehnt spricht und so „vor“ den Anfang des Gedichts stellt – ähnlich wie Tolkien vor Beginn der Rezitation von Namárie das Ai! am Anfang ausgedehnt und außerhalb des Metrums zu wiederholen pflegte.
- ↑ J. R. R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Zweites Buch, Erstes Kapitel: „Viele Begegnungen“. (Deutsche Übersetzung: Ebba-Margareta von Freymann)
- ↑ J. R. R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Zweites Buch, Erstes Kapitel: „Viele Begegnungen“. (Deutsche Übersetzung: Ardapedia)
- ↑ „Aber ihm wurde ein mächtiges Schicksal auferlegt, weiterzuziehen und niemals mehr zu verweilen“ – Deutsche Übersetzung: Ardapedia
- ↑ „Von Westen nach Osten und ohne Auftrag, kein Herold mehr, eilte er heimwärts.“ – J. R. R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Zweites Buch, Erstes Kapitel: „Viele Begegnungen“. (Deutsche Übersetzung: Ardapedia)
- ↑ „Über die grauen und lang-verlassenen Meere zog er in Bedrängnis von Osten nach Westen davon.“ – J. R. R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Zweites Buch, Erstes Kapitel: „Viele Begegnungen“. (Deutsche Übersetzung: Ardapedia)
- ↑ J. R. R. Tolkien: Der Herr der Ringe. Zweites Buch, Erstes Kapitel: „Viele Begegnungen“. (Deutsche Übersetzung: Ardapedia)
Quellen
J. R. R. Tolkien: Der Herr der Ringe.
- Zweites Buch, Erstes Kapitel: „Viele Begegnungen“
- Register: „I. Lieder und Gedichte“
J. R. R. Tolkien: Die Abenteuer des Tom Bombadil.
- „Vorwort“
J. R. R. Tolkien: The Treason of Isengard. Herausgegeben von Christopher Tolkien.
- Fünftes Kapitel: „Bilbo’s Song at Rivendell: Errantry and Eärendillinwë“
Tom Shippey: The Road to Middle-earth.
- Sechstes Kapitel: „‘When All Our Fathers Worshipped Stocks and Stones’“, Abschnitt The elvish tradition